Seit der Gründung 1920 der Schule Schloss Salem, des wohl renommiertesten Eliteinternats Deutschlands, bildet die Lesung der Parabel des barmherzigen Samariters den Höhepunkt der Zeremonie zu Beginn jedes neuen Schuljahres. Die Schulgründer, der letzte Reichkanzler des deutschen Kaiserreichs Prinz Max von Baden und sein engster Vertrauter Kurt Hahn, sahen die Erziehung zur Nächstenliebe und zur Verantwortung als fundamentales Element ihres pädagogischen Konzepts. Die Schüler verpflichten sich, regelmäβig und nachhaltig Dienst an ihre Mit- und Umwelt zu tun und in Katastrophensituationen tatkräftig Hilfe zu leisten. Sie werden bei der Feuerwehr, beim roten Kreuz oder beim technischen Hilfswerk auch für Extremfälle ausgebildet und sind Tag und Nacht einsatzbereit. 2002 nach dem tragischen Flugzeugcrash über Überlingen am Bodensee kamen sie als erste an die Unfallstelle um verunglückte Passagiere zu bergen. Ebenso halfen sie nach dem Erdbeben 1954 vorort in Kephalonia in Griechenland bei Bergungs- und Wiederaufbauarbeiten. Kritiker halten es für unvertretbar, Schüler derartige Verantwortung zu übertragen und Traumata auszusetzen.
Wie viele andere Forscher unserer Zeit, macht Drewermann nachdrücklich auf « die Krise des zivilisatorischen Fortschritts [...] und das dramatische Ausmaß der Zerstörung – in der Umwelt und in den Seelen der Menschen » aufmerksam und fordert : « Wir brauchen ein neues Menschenbild, das den Menschen als Teil der Natur versteht ». Hinsichtlich dieses Postulats sowie der fälschlicherweise als Sentenz Kants zitierte Leitsatz des derzeitigen Philosophielehrers Salems, « Ich kann, weil ich will, was ich muss », soll im Beitrag Hahns Menschenbild im Konzept der « Erziehung zur Verantwortung » und anhand des pädagogischen Programms analysiert werden. Neben dem Begriff der Verantwortung geht es auch um den Begriff der Empathie. Dabei sollen zudem Fragen wie der Schutz der Schüler, der Zumutbarkeit von Risiken und Gefahren sowie der Verarbeitung traumatischer Situationen diskutiert werden. Angesichts der Erfahrungen mit der aktuellen Corona-Krise sind das Bildungsziel von Salem und sein weltanschaulicher bzw. geistesgeschichtlicher Hintergrund auf ihre mögliche Vorbildfunktion für eine neue Form staatsbürgerlicher Erziehung hin zu befragen.