AGES

 

 Catastrophes, menaces et risques naturels

Natur und Umwelt: Risiken, Gefahren und Katastrophen

 

Congrès de l'AGES  -  10-12 juin 2021  -  MSH Clermont-Ferrand

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Klimakatastrophen in der deutschen Gegenwartsliteratur: Form, Funktion und Ästhetik literarischer Naturkatastrophenszenarien zwischen Realismus und Dystopie (J. Domian, J. Jacob, A. Kuhlmeyer, U. Laub)
Marina Ortrud M. Hertrampf  1  
1 : Universität Passau

Risiken, Gefahren und Katastrophen prägen unsere Welt – das ist an sich nicht neu, aber die Ausmaße sind in der globalisierten und zunehmend vom Klimawandel veränderten Welt von ungeahnter Virulenz. So gehen Risiken und Gefahren nicht mehr nur lokal als Einzelereignisse von den Wechselfällen der Natur aus. Extreme Wetteranomalien und daraus resultierende, weltweit in immer engeren Intervallen wiederkehrende Naturkatastrophen sind vielmehr Folge anthropogener Umweltbeeinflussung und stehen in enger Verbindung zu bio- und geopolitischem (Nicht-)Handeln. Der Klimawandel als Folge eines maßlosen und achtlosen Fortschrittsdrangs bestätigt also Walter Benjamin (1972ff., I.2: 683, 697), der Fortschritt und Katastrophe als zwei Seiten derselben Medaille versteht, gleichermaßen wie Theodor W. Adornos Aussage, dass wir in einem „Zeitalter der Katastrophe“ (Adorno 1970ff., 10.2: 622) leben, in dem ,Katastrophe‘ nicht mehr nur auf singuläre Ereignisse verweist, sondern als Prozess und schließlich als Zustand zu begreifen ist. Die „permanente Katastrophe“ (Adorno 1970ff., 4: 219) er- und umgreift folglich unweigerlich das gesamte Leben des modernen Menschen. Im unmittelbaren Erfahren und Erleiden führt dies immer wieder zu Sprachlosigkeit. Der letztlich unerschütterliche menschliche Überlebenswille wandelt Erschütterung und Verzweiflung, Furcht und Trauma allerdings in Kompensations- und Bewältigungsstrategien, die ihren Ausdruck insbesondere in Kunst und Literatur finden. 

Die Sorge um den Umgang mit Natur, Umwelt und Ressourcen hat sich in der deutschsprachigen literaturwissenschaftlichen Theoriebildung (Ökokritik/Ecocriticism) wie in der Belletristik spätestens seit den 90er Jahren eingeschrieben. In der Narrativik bildeten sich mit Klimawandel-/Ökologieroman und Öko-Thriller neue Untergattungen heraus, bei denen Natur- und Klimakatastrophen mitunter nicht nur das setting bilden, sondern zuweilen auch zu eigenständigen Akteuren werden. So unterschiedlich diese literarischen Naturkatastrophenszenarien hinsichtlich ihrer narrativen und ästhetischen Machart sind, so sind sie doch alle sowohl hinsichtlich ihrer Gattungszugehörigkeit als auch ihres Verhältnisses von Fiktion und Faktion in einem Zwischenbereich anzusiedeln. 

Der Vortrag präsentiert exemplarisch vier vollkommen unterschiedliche Spielarten der literarischen Verarbeitung von lokalen wie globalen und realen wie fiktiv-imaginierten Natur- und Klimakatastrophen. Vor dem Hintergrund des sogenannten Jahrhunderthochwassers in Sachsen im Jahr 2002 erzählt Jörg Jacob in Fluten (2009) von Auswirkungen der Naturkatastrophe auf die Psyche des Einzelnen und dessen Folgen auf das zwischenmenschliche Miteinander. Flutartige Überschwemmungen bilden auch das setting von Anne Kuhlmeyers Öko-Thriller Drift (2017), in dem die Opfer der Naturkatastrophe im wortwörtlichen Sinne zu Opfern ihrer Imagination und ihrer mörderischen Phantasien werden. Im Gegensatz zu diesen beiden im Bereich realer Naturkatastrophen verankerten Romanen bilden unerklärliche globale Wetterphänomene, die Ökosysteme und menschliche Lebensräume zum Einsturz bringen, die Basis zweier dystopischer Katastrophenszenarien: Während in Jürgen Domians nachdenklichem Tagebuchroman Der Tag, an dem die Sonne verschwand (2008) die Erfahrung der Naturkatastrophe zum Weg der Selbsterkenntnis des Protagonisten wird, stehen in Uwe Laubs actionreichem Bestseller Sturm (2018) politische Intrigen und ideologische Verschwörungstheorien im Mittelpunkt. 

Bei der Analyse und Interpretation dieser Romane steht zum einen die Frage im Zentrum, wie das Außergewöhnliche in Zeiten permanenter Katastrophen (überhaupt noch) ästhetisch artikuliert werden kann und inwiefern dabei biblische Intertexte (Sintflut, Plagen, Apokalypse) auch in säkularen Zeiten ein Revival erleben. Zum anderen wird ausgelotet, inwiefern lokale Naturkatastrophen im globalen Kontext des Klimawandels verhandelt werden und welche Funktionen und Wirkungen dabei erzielt werden sollen bzw. können.


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