Literarische und künstlerische Reaktionen auf Naturkatastrophen stellen einen wichtigen Gegenstand für die Untersuchung der Darstellung, Deutung und Wahrnehmung von Katastrophen dar. Während die in längerfristig ausgerichteten Medien der Literatur, des Films und der Kunst erscheinenden Texte (z. B. Kleists Das Erdbeben von Chili) von der Forschung relativ zahlreich untersucht worden sind, sind unmittelbare Reaktionen auf Katastrophenereignisse noch weitgehend unberücksichtigt geblieben. Diese als Stellungnahmen bezeichneten Texte stehen im Zentrum meines geplanten Beitrags. Sie aktivieren gewissermaßen akut schon bestehende (latente) Katastrophennarrative, deren Herkunft, Ursprung, Tradition und Funktion genauere Betrachtung verlangen. Darüber hinaus greifen sie das Wissen über Katastrophen unmittelbar auf und stellen die Weichen für die langfristige Diskursbildung der Ereignisse. Dies ist etwa bekannt für die Diskursbildung rund um die Rezeption des Erdbebens von Lissabon 1755 durch Voltaire.
Anhand der im deutschsprachigen Raum zirkulierenden Stellungnahmen zu neueren katastrophalen Erdbebenereignissen werden Stellungnahmen in ihrer Funktion der kulturellen Wissensvermittlung untersucht. Der deutschsprachige Raum, der einerseits per definitionem ein geringes Erdbebenrisiko aufweist, weist andererseits eine hohe Bereitschaft der kulturellen Aufnahme und Verhandlung von Erdbebendiskursen im Weltmaßstab auf. Besonders deutlich ist dies nicht zuletzt nach der verheerenden Dreifachkatastrophe in Japan vom März 2011 in Erscheinung getreten. So hat sich die japanisch-deutsche Schriftstellerin Yoko Tawada unmittelbar danach in mehreren deutschsprachigen Medien zu Wort gemeldet und ihren Diskurs an den deutschen Atomkraft-Diskurs angebunden. Nach den Erdbeben von Gölcük 1999, Haiti 2010 und Amatrice 2016 sind Orhan Pamuk, Louis-Philippe Dalembert und Roberto Saviano als Kulturvermittler aufgetreten und haben ihre Einschätzungen zu den Ereignissen geliefert, die in deutschsprachiger Übersetzung erschienen sind. Die Frage ist weniger, ob oder inwiefern diese Texte auf eine gewisse kulturell verankerte Schaulust am Katastrophischen reagieren, als vielmehr, welche ästhetischen, ideologischen und politischen Fragen den einzelnen Diskursen zugrunde liegen und wie sie in der Rolle der Kulturvermittlung eingesetzt werden.