Am 2. September 1806 begraben Steinmassen mehrere Gemeinden im Kanton Schwyz; mindestens 457 Menschen kommen ums Leben, ganze Familien und Dörfer werden ausgelöscht. Der Bergsturz von Goldau ist eine lokale Tragödie, die vor dem Horizont der katastrophalen Ereignisse dieser Zeit eher als Fußnote erscheinen könnte – in den napoleonischen Kriegen starben Millionen, und Natur- katastrophen wie ein Erdbeben in den Anden 1797 forderten oft viele Tausende Menschenleben. Dennoch sorgt die Katastrophe in dem Alpendorf nicht nur für Schlagzeilen in der europäischen Presse, sondern wird zum literarischen und künstlerischen Stoff, der Goethe, Byron, Daguerre und Turner gleichermaßen beschäftigt. Selbst in den USA wird der Bergsturz rezipiert: 1818 erscheint das Langgedicht Goldau, or the Manic Harper des jungen Poeten John Neal, und noch 1892 veröffentlicht eine Mary Elizabeth Jennings in New York eine erbauliche Novelle unter dem Titel The Brave Maid of Goldau.
Das Interesse am schweizer Bergsturz im ‚langen‘ 19ten Jahrhundert kommt nicht von ungefähr. Wie das Erdbeben in Lissabon knapp 50 Jahre zuvor erschüttert diese Katastrophe ein humanistisches Weltbild – dass hier statt der Stadt jedoch das Dorf in den Bergen zerstört wird, verleiht dieser Erfah- rung eine weitere Qualität: So waren die Berge schließlich erst unlängst im 18ten Jahrhundert von ei- ner lebensfeindlichen Region zu einer ästhetischen geworden, zu einem (bürgerlichen) Idyll romanti- scher Naturnähe, das gerade Intellektuellen eine Zuflucht vor den Wirren urbaner Zivilisation zu bie- ten schien – und das sich nun als ebenso gefährdet erwies wie alles andere. In meinem Vortrag möch- te ich untersuchen, wie gerade die Vorstellungen des alpinen Idylls im 19ten Jahrhundert aus der lo- kalen Katastrophe des Bergsturzes ein global empfundenes Ereignis machen.